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Ein Gastbeitrag von Jens Scherb, jensscherb.de
Vom Brötchenpreis zum WeltproblemWir müssen uns vergegenwärtigen, dass während der Diskussion um höhere Brötchenpreise bei uns in Deutschland zur gleichen Zeit Menschen aufgrund eines sinnlosen Kriegs in der Ukraine sterben müssen. Um so erstaunlicher ist es, dass der Deutsche Bauernverband samt Gefolgschaft bereits zwei Tage nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine meint zu wissen, den Green Deal, die Farm-to-Fork-Strategie und die Flächenstilllegungen zur Rettung der deutschen Landwirtschaft kippen zu müssen.1 Der Ukraine-Krieg wird vom Bauernverband und seiner Lobby-Gefolgschaft als Vorwand für seine alt bekannten egoistischen Wirtschaftsinteressen missbraucht. Und das vor dem Hintergrund, dass jeder elfte Mensch dieser Erde an Hunger leidet und täglich fast 24.000 Menschen an den Folgen von Mangel- und Unterernährung sterben.2 Die FAO schweigt zur drohenden Hungerkrise, die Kritik westlicher Diplomaten bleibt ungehört. BMEL3 Vorweg: Deutschland hat einen durchschnittlichen Selbstversorgungsgrad von 145% bei Kartoffeln, 118% bei Fleisch, 117%bei Milch und 101% beim Getreide im Jahr 2020 erwirtschaftet. Bei Obst und Gemüse ist er aber viel zu gering.4 Der Bundesverband deutscher Milchviehhalter schreibt dazu: Natürlich ist auch uns bekannt, dass rund ein Fünftel der landwirtschaftlichen Agrarprodukte auf Grundlage von Importfuttermitteln produziert wird und damit rein rechnerisch eine Unterversorgung behauptet werden könnte. Völlig vernachlässigt wird dabei aber, dass rund ein Drittel unserer Nahrungsmittel im Müll landet oder von der Nahrungsindustrie als eine Art Putzmittel zweckentfremdet wird. So werden beispielsweise die Rohre in Molkereien bei einem Chargenwechsel so lange mit dem neuen Produkt „durchgespült“, bis das neue Produkt sortenrein ankommt, weil das billiger zu sein scheint, als einen Spülgang mit Wasser durchzuführen. Unsere vermeintliche Unterversorgung im Gemüsebereich schließt bisher nicht aus, dass auf unseren Äckern wachsendes Gemüse zum Teil noch vor der Ernte untergepflügt wird, weil es nicht verkauft werden kann oder Obst am Baum vergammelt, weil es aus aller Herren Länder billiger importiert werden kann.5 Also: Versorgungsengpässe sind in Deutschland wohl nicht zu erwarten. Teurer könnte es aber werden, denn Europas Landwirte beziehen Stickstoffdünger vor allem aus Russland und Belarus, die Produktion von Mineraldünger braucht mittels Haber-Bosch-Verfahren verdammt viel Energie. Und die ist in Russland und Belarus dank Erdgasvorkommen billig.6 Da stellt sich die Frage: Wollen wir eine Landwirtschaft, die ökologischer, nachhaltiger und vor allem unabhängiger ist, oder müssen wir das bestehende System intensivieren und uns weiter abhängig machen? Krieg als Argument gegen ökologischen Landbau„Die neue gemeinsame Agrarpolitik der EU sieht ab 2023 vier Prozent Flächenstilllegung und zunehmende Extensivierung sowie zahlreiche Produktionseinschränkungen auf unseren ertragreichen Flächen vor, was keineswegs der richtige Kurs sein kann. Wir müssen den Aspekt der Welternährungssicherheit stärker denn je in den Blick nehmen“, teilte die für Landwirtschaft zuständige Vizevorsitzende der FDP-Fraktion im Bundestag, Carina Konrad, der taz mit. [...] Der agrarpolitische Sprecher der Fraktion, Gero Hocker, ergänzte: „Die Pläne [der EU-Kommission] zum Verzicht auf Pflanzenschutz oder der Ausweitung des Ökolandbaus sind fahrlässig.“7 Die FDP und der Bauernverband vergessen, dass unser größtes Problem nach wie vor und in Zukunft der Klimawandel ist. Dürre und Trockenheit sind die größten Probleme für die deutsche Landwirtschaft. Dass man sich da noch freiwillig abhängig von Diktatoren macht, verwundert. Methoden des Biolandbaus und der regenerativen Landwirtschaft haben doch die Lösungen für unsere Probleme: Bodenschutz, Wasser‐ oder Hochwasserschutz, Biodiversität, Produktivität, Ernährungssicherung, Gesundheit oder Klimawandel: Kern der Lösung sind stets vielfältige, hochproduktive Agrar‐Ökosysteme, die als Ressourcenquellen immer mehr Energie, Luft, Wasser und Mineralien in ihre Lebensprozesse einbinden, Nahrung und Lebensraum für Bodenleben, Pflanzen und Tiere schaffen, dauerhafte Erträge liefern und über Wasserrückhaltung, Verdunstung, Temperaturausgleich und Vermeidung von Emissionen direkt vor Ort zur Regeneration von kleinen Wasserkreisläufen und Klima beitragen. Landwirte haben damit gesunde Böden, machen sich unabhängig und profitabel. Leider setzt dies fairen Zugang zu Land, Wissen und politische Unterstützung voraus. Was, wie folgt, durch die Agrarlobby jahrelang erfolgreich verhindert wird. Egoistische Wirtschaftsinteressen der Agrarlobby"Hinter der Argumentation einer drohenden Unterversorgung steht vor allem die Sorge, dass die Versorgung mit Nahrungsmitteln zu Ramschpreisen gefährdet sein könnte“, stellt Stefan Mann [vom BDM] fest. „Klar ist aber auch: Was nichts kostet, ist nichts wert! Wenn Gemüse und Obst aus heimischem Anbau wieder zu einem realistischen Marktwert vermarktet werden können, würde sich auch der Selbstversorgungsgrad in diesem Bereich erhöhen.“ „Und wenn wir schon bei Rechenspielen sind: Wie ausgeprägt wäre die Unterversorgung im Obst- und Gemüsebereich denn noch, wenn wir mit den Futter- und Düngemitteln, mit denen wir aktuell in anderen Bereichen Überschüsse produzieren, regionales und saisonales Obst und Gemüse anbauen“, stellt Mann infrage.5 Der Agrarpolitiker Martin Häusling erklärt in seiner Onlineveranstaltung zum Ukraine-Krieg vom 09.03.2022: “Europa hat sich in den letzten Jahren zur Fleischtheke der Welt entwickelt.” Ein Blick auf die Statistiken zeigt, dass Europa tatsächlich zwei Drittel seines Getreides in den Futtertrog wirft und nur ein kleinerer Teil davon der menschlichen Ernährung dient. Hinzu kommt, dass wir vor allem in Deutschland eine erhebliche Fläche für die Produktion von hochsubventioniertem Agrotreibstoff verwenden. Auch müssen wir uns klar machen, dass 30 % der Nahrungsmittel gar nicht erst den Weg auf unsere Teller finden und als Food-Waste verschwendet werden. Die bisherige Zielsetzung der EU-Agrarpolitik, der Verarbeitungs- und Ernährungsindustrie mit möglichst günstigen Rohstoffpreisen einen globalen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, hat mit seinem Intensivierungs- und Wettbewerbsdruck zu einem massiven Strukturwandel und einer massiven wirtschaftlichen Schwächung der verbliebenen landwirtschaftlichen Betriebe geführt. Dem steht eine massive Konzentration aufseiten der Ernährungsindustrie gegenüber, die Märkte in den Entwicklungsländern mit billiger Milch und billigem Fleisch flutet, und so die lokale Wirtschaft der Landwirte zerstört. Zusätzlich haben Russland und die Ukraine zusammen einen Anteil von ungefähr 30% an den weltweiten Exporten von Weizen. Beide Länder werden wohl auf kürzere und mittlere Frist als Getreidelieferanten ausfallen, weshalb laut WHO Hungersnöten in Ländern drohen, die von diesen Lieferungen abhängig sind, vor allem im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika. Dazu kommen erhebliche Preissteigerungen, die die Menschen in den Entwicklungsländern massiv belasten. Weltweit wird Getreide knappDer Libanon, dessen Getreidesilos im August 2020 von der Explosion der Düngerhallen am Hafen von Beirut zerstört wurden, hat gerade noch die Kapazität, um Vorräte für etwa einen Monat anzulegen. Und bis jetzt hatte der Libanon über 80 Prozent seines Weizens aus der Ukraine importiert. Der Jemen importiert laut Zentralbank 52 Prozent seines Weizens aus der Ukraine. Völlig zerstörte Lagerhallen im Hafen von Beirut.8 »Wir können noch maximal für zwei Wochen Kreditlinien für Importe vergeben«, sagt Mansour Rageh von der jemenitischen Zentralbank. Hunger, Flüchtlinge und Unruhen sind zu erwarten. Ägypten hat nach eigenen Angaben noch Getreidereserven für ein paar Monate. Das Land war früher der Getreideproduzent für die Welt. Heute ist es abhängig von stabilen Importen. In Kenia machen die Menschen in sozialen Medien ihrem Ärger über steigende Lebensmittelpreise Luft. Im Sudan dürften weiter in die Höhe schnellende Getreidepreise die Unruhen gegen den Militärputsch weiter befeuern. Steigende Preise bedeuten, dass die weltweite globale Ungleichheit noch zusätzlich verschärft wird. Die Klimakrise und die durch Umweltzerstörung entstandene Pandemie setzen Entwicklungsländern zu. Der schwere Zugang zu Nahrungsmitteln wird zur Existenzfrage. China und die untätige FAOFünfzehn Seiten brisanter Informationen über eine bevorstehende internationale Ernährungskrise werden von der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) unter Verschluss gehalten. Spiegel-Informationen zufolge verhindert der Generalsekretär der FAO, Qu Dongyu, die geplante Veröffentlichung des brisanten Dokuments. Der Grund, so verlautet es aus diplomatischen Quellen: Qu ist Chinese und halte den Bericht zurück, weil die Regierung in Peking kein Interesse daran habe, weitere Panik auf dem weltweiten Getreidemarkt zu schüren. Der Spiegel berichtet hierzu: China kauft schon seit Monaten überall auf der Welt massiv Getreide und Soja auf. Vielleicht befürchtet Peking, die Veröffentlichung des FAO-Papiers würde die ohnehin drastisch gestiegenen Preise für Weizen und anderes Getreide weiter in die Höhe treiben – auch China müsste also mehr bezahlen. Oder aber China will gemeinsame internationale Lösungsansätze für drohende Hungersnöte hinauszögern, solange es selbst mit Hamsterkäufen beschäftigt ist. [...] Bei ihrem Treffen mit Generaldirektor Qu Dongyu am 4. März forderten die europäischen FAO-Botschafter nach SPIEGEL-Informationen, dass die Organisation aktiv werde. Der deutsche Botschafter bei der FAO kritisierte laut einem Vermerk das »brüllende Schweigen« (»roaring silence«) der FAO seit Kriegsbeginn am 24. Februar. Die Organisation, so [Ulrich] Seidenberger, sei viel zu lange unsichtbar geblieben. »Die FAO muss jetzt zeigen, dass sie relevant ist«, sagte der Botschafter dem Vermerk zufolge.9 Wie entsteht Hunger und wie werden wir ihn los?Im globalen Süden geben Menschen über 80% ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus. Steigen die Preise, ist die logische Konsequenz, dass die Menschen noch weniger essen. Die landläufige Debatte zur Hungerbekämpfung verengt sich unter den Schlagworten Produktivitäts- und Effizienzsteigerung gerne auf die Produktionsmengen von Nahrung. Dabei hätte heute rein rechnerisch jeder Mensch auf der Welt 30 Prozent mehr zu Essen als noch vor 50 Jahren. Laut Welternährungsorganisation FAO könnten schon heute über zehn Milliarden Menschen ernährt werden. Hunger ist in erster Linie Ursache von Diskriminierung spezifischer Bevölkerungsgruppen. Wer hungert? Die Hälfte aller Hungernden sind KleinbäuerInnen, 22 Prozent Landlose (Saisonarbeiter, Pächter …) und acht Prozent Indigene, Nomaden und Fischer. 80 Prozent der Hungernden leben auf dem Land, 20 Prozent in städtischen Gebieten, oft in Slums. 70 Prozent der Hungernden sind Frauen.10 Im globalen Durchschnitt kostet es 0,79 US-Dollar, um eine Person für einen Tag mit ausreichend Kalorien zu versorgen. Der Preis für eine Ernährung, die außer Kalorien auch den Nährstoffbedarf berücksichtigt, liegt bei 2,33 US-Dollar. Eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung, die verschiedene Lebensmittelarten kombiniert und neben Mangelerscheinungen auch langfristig ernährungsbezogenen Krankheiten vorbeugt, kostet pro Tag und Kopf mindestens 3,75 US-Dollar. Laut einem Bericht der UN ist eine gesunde Ernährung, die Mangelernährung vorbeugen würde, für fast die Hälfte aller Menschen weltweit unerschwinglich. Achtzig Prozent der Menschen, die von extremer Armut betroffen sind, leben auf dem Land. Landwirtschaft ist ihre wichtigste Einkommensquelle. Werden Menschen von ihrem Land durch Unwetter, Klimawandel, Korruption oder Gewalt vertrieben, entfällt ihre Lebensgrundlage. Auch der Zugang zu lokal angepasstem Saatgut wird immer schwerer. Dieser steht im Gegensatz zu den Marktinteressen der großen Saatgutkonzerne. 50 Prozent des Marktes für kommerziell genutztes Saatgut teilen nur vier Unternehmen unter sich auf. Dazu gehören die deutsche Bayer Crop Science (inklusive Monsanto), das amerikanische Unternehmen Corteva Agriscience, ChemChina/Syngenta sowie Vilmorin&Cie/Limagrain aus Frankreich. Sie machen die Bäuerinnen und Bauern mit ihrem Hybridsaatgut von sich abhängig und verkaufen im selben Zug ihre giftigen Pestizide. Sie wollen die Gesetzgebung mit Korrupten Methoden so verändern, dass eigener Saatgutnachbau nicht mehr erlaubt ist, der im Übrigen eine Lösung im Kampf gegen den Klimawandel ist. Eigener Saatgutnachbau ist ein Menschenrecht. Auf afrikanischen Plantagen landen Pestizide, die in der EU niemals zugelassen wären. Diese Kenianer mischen synthetische Pestizide ohne Schutzkleidung. Die vier großen Agrarkonzerne machen Profite auf Kosten von Arbeitern und Umwelt.11 Zusätzlich nimmt die Fehlernährung weltweit zu. Zu wenig Nahrung führt zu Wachstums- und Entwicklungsstörungen, zu viele leere Kalorien aus Zucker und Fetten können Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes auslösen. Eine Marktkonzentration mit besonders negativen gesundheitlichen Auswirkungen ist auf der Ebene der Lebensmittelhersteller zu beobachten. Die fünf größten Lebensmittelkonzerne der Welt, Nestlé, PepsiCo, Anheuser-Busch InBev sowie die Fleischkonzerne JBS und Tyson Foods erzielten 2019 jeweils einen Umsatz von über 40 Milliarden US-Dollar. Sie verfügen über einen globalen Marktanteil von 23 Prozent der Top 100 Nahrungsmittelhersteller. Ihr gemeinsamer Umsatz von 308 Milliarden US-Dollar im Jahr war höher als das Bruttoinlandsprodukt von Finnland. Auch diese Firmen nehmen politischen Einfluss, um ihre Marktanteile zu erhalten.12 Es sind auch jene Firmen, die genau so behaupten, die deutsche Landwirtschaft müsse zur Lösung des Welthungerproblems intensiver wirtschaften. Wir werden den Hunger nur los, indem wir endlich unser krankes Ernährungssystem überwinden und uns selbst mit unserer falschen Agrarpolitik nicht länger anlügen. Der Ukraine-Krieg muss uns die Augen öffnen. FazitHunger ist ein strukturelles Problem. Durch den Ausfall der “Kornkammer Europas” und die steigenden Preise auf dem Agrarmarkt werden die Menschen in den Entwicklungsländern, dort lebt die überwiegende Mehrheit der Hungernden, noch weiter in die Enge getrieben. Eine Intensivierung unserer konventionellen Landwirtschaft und der Verrat am Naturschutz wird für uns teuer. Die Behauptung, wir könnten durch noch intensiveres Wirtschaften den Welthunger stillen, ist eine Farce, verbreitet von Profit getriebenen Lobbyisten. Unsere Landwirtschaft braucht eine zukunftsweisende, ökologisch sinnvolle Agrarpolitik. In Entwicklungsländern müssen Handelsabkommen Kleinbauern schützen, schädliche Spekulation mit Nahrungsmitteln verboten werden und Gerichte und Klagemöglichkeiten zugänglich sein, damit Menschenrechte effektiv eingeklagt werden können. Und dazu gehört, dass man Geschäfte mit Autokraten endlich auf den Prüfstand stellt (und einstellt). Denn diese Geschäfte erhöhen die Abhängigkeit und gefährden die Ernährungssicherung längerfristig mehr als das aktuelle Kriegsgeschehen. Der Krieg wird die Nahrungsmittelversorgung in den abhängigen Entwicklungsländern verschlechtern. Diese Länder müssen wir kurzfristig sinnvoll unterstützen. Und langfristig lehrt uns der Krieg, dass wir unsere heimische Landwirtschaft ökologisch nachhaltig aufstellen müssen. Alle Links abgerufen am 09.03.2022. Dies ist keine wissenschaftliche Arbeit, und ich übernehme keinerlei Haftung. Der Beitrag enthält persönliche Meinungen. Kontakt gerne unter kontakt@jensscherb.de. Vielen Dank für Ihr Verständnis.
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